Zivilisation

Menschen sind nicht von Natur aus zivilisiert, aber sie haben von Natur aus eine Anlage, die unter bestimmten Bedingungen eine Zivilisierung, also eine individuelle Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung von den primären auf sekundäre Ziele hin und gegebenenfalls auch deren sublimatorische Umgestaltung, möglich macht. (Es ist kaum nötig, aber vielleicht nützlich zu sagen, daß bei dem Begriff der bildsamen, sublimationsfähigen menschlichen Triebimpulse Sigmund und Anna Freud Pate standen.)

Daß ohne ein biol. vorgegebenes Z.s-Potential Z.s-Prozesse nicht möglich wären, wird leicht übersehen. Da Menschen im Unterschied zu manchen anderen sozialen Lebewesen keine angeborene Trieb- und Affektregelung besitzen, sind sie ganz auf die Mobilisierung ihrer natürlichen Anlage zur Selbstregulierung durch das persönliche Lernen von Trieb- und Affektkontrollen im Sinne gesellschaftsspezifischer Z.s-Muster angewiesen, um mit sich selbst und mit anderen Menschen leben zu können. Der universelle Prozeß der individuellen Z. gehört sowohl zu den Bedingungen der Individualisierung des einzelnen wie zu denen des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff der Z. oft seines ursprünglichen Prozeßcharakters (als Weiterbildung des frz. Äquivalents von "zu zivilisieren") entkleidet.

Aber um Z.s-Prozesse bei der Forschung in den Griff zu bekommen, muß man sowohl wissen, auf welche unwandelbaren Gemeinsamkeiten wie auf welche wandelbaren Verschiedenheiten der Menschen sich der Begriff Z. bezieht. Der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen einer individuellen Selbstregulierung im Sinne wandelbarer gesellschaftlicher Z.sMuster sind soziale Universalien. Man begegnet einer Umsetzung von Fremdzwängen in Selbstzwänge in allen menschlichen Gesellschaften. Aber wenn auch Fremdzwänge, sei es naturaler, sei es sozialer Art, zur Entwicklung von individuellen Selbstzwängen unentbehrlich sind, so eignen sich durchaus nicht alle Arten von Fremdzwang dazu, die Entwicklung individueller Selbstzwanginstanzen herbeizuführen und erst recht nicht dazu, sie in Maßen zu fördern, also ohne das individuelle Vermögen zur Trieb- und Affektfreude zu beeinträchtigen. So ist etwa Fremdzwang in der Form physischer Gewalt weniger zur Ausbildung von gleichmäßigen Selbstkontroll-Instanzen geeignet als geduldige Überredung; Fremdzwänge, die häufig zwischen heftiger Drohung und heißer Liebesbezeugung hin und her schwanken, weniger als gleichmäßige Fremdzwänge auf einer sicherheitsgebenden Grundlage affektiver Wärme.

Wenn man die Entwicklung der Menschheit ins Auge faßt, dann stößt man aufeinen umfassenden menschheitlichen Z.s-Prozeß. In ständiger Auseinandersetzung mit entzivilisierenden Gegenprozessen ist er bisher, also von der Steinzeit bis in unsere Tage hinein, dominant geblieben. Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß er dominant bleiben muß. Einer seiner Aspekte ist das Größenwachstum der menschlichen Überlebenseinheiten. Aus kleinen Sippengruppen, die manchmal in Höhlen lebten und vielleicht einmal nicht mehr als 50 bis 60 Menschen umfaßten, gingen im Laufe der Zeit Nationalstaaten hervor, die viele Millionen von Menschen umfaßten. Der Aufstieg zu einer höheren Größenordnung der Überlebenseinheiten, der langfristig Vorteile in deren Ausscheidungskämpfen mit sich brachte, verlangte jeweils den Durchbruch zu einer neuen, intern mehr oder weniger pazifizierten Figuration (z.B. von Dorf zu Stadt, von Stamm zu Staat) und zu neuen Mustern der Reserve und Distanzierung, zu neuen Z.s-Mustern. Die allmähliche Verlagerung der Machtbalance auf dieser Erde zugunsten der Menschen im Verhältnis zur nicht-menschlichen Natur wirkte sich im gleichen Sinne aus. Sie führte zu einer Verringerung der Gefahren von seiten der nicht-menschlichen Natur und verlangte ein gleichmäßigeres An-sich-Halten der Menschen. Vereinfachend kann man sagen: je höher das permanente Gefahrenniveau, umso niedriger das permanente Z.s-Niveau.

Vom menschheitlichen Z.s-Prozeß unabtrennbar, aber gedanklich unterscheidbar, sind die speziellen Z.s-Prozesse, die von Stamm zu Stamm, von Nation zu Nation, kurzum von Überlebenseinheit zu Überlebenseinheit im Zusammenhang mit den Eigenheiten ihres sozialen Schicksals verschieden sind. Entsprechend verschieden ist der Werdegang der speziellen Z.s-Prozesse und so auch die jeweilige Gestalt der Z.s-Muster. Die letzteren finden einen ihrer greifbarsten Ausdrücke in dem gemeinsamen sozialen Habitus der Individuen, die eine bestimmte Überlebenseinheit, etwa einen Stamm oder Staat, miteinander bilden. Sie sind nicht nur Erben einer spezifischen Sprache, sondern auch Erben eines spezifischen Z.s-Musters, also spezifischer Formen der Selbstregulierung, die sie wie eine gemeinsame Sprache durch Lernen absorbieren und denen man dann als Gemeinsamkeiten des sozialen Habitus, des Empfindens und Verhaltens der Angehörigen eines Stammes oder eines Nationalstaates begegnet. Der Begriff des Nationalcharakters bezieht sich auf sie. Er wird in Verbindung mit der Z.s- Theorie als Forschungsinstrument brauchbarer. Zu den Gemeinsamkeiten aller Z.s-Prozesse wie aller Entzivilisationsprozesse gehören vor allem auch ihre Richtung. Eine Auslese von Kriterien für die Richtung von Z.s-Prozessen muß hier genügen. Bei langfristiger Untersuchung findet man, daß sich die Balance von Fremdzwängen und Selbstzwängen und damit auch die Balance von Trieb- und Selbstzwängen und die Art des individuellen Einbaus der letzteren im Laufe des menschheitlichen Z.s-Prozesses im Sinne einer spezifischen Richtung verändert. Auf früheren Entwicklungsstufen, also etwa auf den durch Stämme und andere vorstaatliche Überlebenseinheiten repräsentierten Stufen, sind die Selbstzwanginstanzen gewöhnlich triebdurchlässiger, ungleichmäßiger, gebrechlicher, labiler und weniger autonom. Sie bedürfen der ständigen Unterstützung und Verstärkung durch Fremdzwänge.

Zu diesen Fremdzwängen gehören auf diesen Stufen nicht nur die realen Zwänge, etwa der Naturgewalten oder der anderen Gruppenmitglieder und der feindlichen Menschengruppen, sondern ganz besonders auch die Zwänge kollektiver Phantasien in der Form von Geistern und den zugehörigen Mythen. Zu deren Funktionen gehört die ständige Hilfestellung und Verstärkung relativ fragiler persönlicher Selbstzwanginstanzen. Die Götter haben auf dieser Stufe Funktionen, die auf späteren Stufen in weit höherem Maße von dem individuellen Gewissen und Verstand erfüllt werden. Im Zusammenhang mit dem schwankenden sozialen Gefahrenniveau werden oft wieder Gegenprozesse dominant. Aber trotz ihrer ist bisher der Z.s-Prozeß dominant geblieben. Das Bild der Götter und Göttinnen selbst hat sich im Sinne dieses dominanten menschheitlichen Z.s-Prozesses verändert. Entsprechend ihrer Funktion als Stützen einer relativ gebrechlichen Selbstregulierung verloren sie niemals den Charakter als furchterregende Wesen. Aber zugleich zivilisierten sie sich.

Die allmähliche Z. der Götter ist in der Tat einer der eindrucksvollsten Belege für die langfristige Z. der Menschen. Sie zeigt deren Richtung an. In früheren Zeiten waren die Götter gewöhnlich leidenschaftlicher, wilder, unberechenbarer. Sie waren heute menschenfreundlich und voller Wohlwollen, morgen grausam, voller Haß und zerstörerisch wie sehr mächtige Menschen und ungezähmte Naturgewalten. Allmählich verringerten sich dann die Ausschläge. Wie sich die unbeherrschbaren Ausschläge der Naturgewalten -gute Ernten, schlechte Ernten -und die Gefahren in diesem Bereich verringerten, so wurden auch die Götter in der Vorstellung der Menschen gleichmäßiger, weniger leidenschaftlich und berechenbarer; sie erschienen dann oft genug als gerechte, sogar moralische und selbst als gütige, immer liebende Gestalten, wie gesagt, ohne ihre Fruchtbarkeit ganz zu verlieren. Die Verringerung der Ausschläge von einem Extrem zum anderen im Bilde der Götter ist bezeichnend für die Richtung eines Z.sProzesses. Dessen Struktur wird oft mißverstanden als Veränderung in der Richtung auf eine ständige Verstärkung oder Vermehrung der Selbstkontrollen. Gewiß, Verstärkung in Maßen ist eines der Kriterien für die Richtung zivilisatorischer Veränderungen. Aber bereits die bisher genaueste empirische Untersuchung eines speziellen Z.s-Prozesses und das theor. Modell eines Z.s-Prozesses, das sich im Zusammenhang mit ihr entwickelte, die Untersuchung des Z.s-Prozesses, der sich vor der frz. Revolution in den weltlichen europäischen Oberschichten (Elias, 1939/1982) voll- zog, ergab ein weit differenzierteres Bild von der Richtung zivilisatorischer Veränderungen. Es zeigte, daß Zunahme der Stärke von Selbstkontrollen allein nicht als Kriterium für die Richtung eines Z.s-Prozesses dienen kann.

Extrem starken Formen der Selbstkontrolle begegnet man oft genug auf relativ frühen Stufen des Z.s-Prozesses (etwa dem schweigenden Ertragen schwerer Folterqualen bei Indianern, den Formen schwerer Selbstkasteiung im Mittelalter). Aber auf früheren Stufen gingen häufig extrem starke Selbstzwänge auf der einen Seite mit dem Vermögen zu einem extrem unkontrollierten Ausleben von Trieb- und Affektimpulsen oder mit extrem starken, vielleicht gewalttätigen Zwängen auf andere Menschen Hand in Hand. Als etwas summarische Zusammenfassung dessen, was sich bisher bei der empirisch-theor. Untersuchung zivilisatorischer Veränderungen über deren Richtung ergeben hat, kann man sagen, daß zu den Hauptkriterien für einen Z.s-Prozeß Veränderungen des sozialen Habitus der Menschen in der Richtung auf ebenmäßigere, allseitigere und stabilere Selbstkontrollmuster gehören.

Ohne sich je von Fremdzwängen völlig loszulösen, gewinnen überdies im Zuge des menschheitlichen Z.s-Prozesses Selbstzwänge den Fremdzwängen gegenüber größere Autonomie. Das Gleichmaß der Selbstregulierung im Verhältnis zu allen Menschen und in fast allen Lebenslagen nimmt zu. Manches spricht dafür, daß im Laufe eines solchen Prozesses das bisher allzuwenig untersuchte Vermögen zur sublimatarischen Verwandlung von mehr animalischen, triebgeladenen Verhaltensimpulsen wächst. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Verselbständigung der individuellen Selbstregelungsinstanzen, zu denen Verstand wie Gewissen, Ich wie Über-Ich gehören, erweitert sich offenbar auch die Reichweite des Vermögens eines Menschen, sich mit anderen Menschen in relativer Unabhängigkeit von deren Gruppenzugehörigkeit zu identifizieren, also auch Mitgefühl mit ihnen zu empfinden. Entzivilisierung bedeutet dann eine Veränderung in entgegengesetzter Richtung, eine Verringerung der Reichweite des Mitgefühls. Es ist sicherlich ein bezeichnendes Symptom einer zivilisatorischen Veränderung, daß in manchen Gesellschaften gegenwärtig die Vorstellung, man könne an Gladiatorenkämpfen oder öffentlichen Hinrichtungen Freude finden, eher negative Gefühle auslöst.

aus: B. Schäfers (Hg.):Grundbegriffe der Soziologie, Opladen/BRD etc.: Leske & Budrich, S. 382-387